6. August 1973, Nordatlantik, schwerer Seegang. Nach einem Schiffsunglück treiben 12 Überlebende im kalten Wasser. Der Hubschrauber einer Bohrinsel hat es zu ihnen geschafft. Andere Hilfe ist nicht in Sicht. Schlecht ausgerüstet für eine Rettungsaktion, lässt die Hubschrauberbesatzung ein einfaches Seil hinunter. Die Schiffbrüchigen sind erschöpft und unterkühlt, der starke Wind und der hohe Wellengang tu ein Übriges: Nur ein 29-jähriger Franzose ist noch kräftig genug, das Seil zu fassen. Er war auf dem Schiff, um von Frankreich in die USA auszuwandern und ein neues Leben zu beginnen. Er nimmt das Seil, bindet es aber nicht sich selbst um, sondern einem kleinen Jungen, dem einzigen Kind der Zwölf. Nachdem der Junge in Sicherheit ist und das Seil ein zweites Mal kommt, ist es wieder der junge Franzose, der das Seil zu fassen bekommt. Jetzt bindet er es einer jungen Frau um, der Mutter des Jungen. Noch neun Mal kommt das Seil, noch neun Mal fängt es der Franzose und noch neun Mal bindet er es einem der Fremden um, die neben ihm im Wasser treiben. Die Rettungsaktion dauert jetzt schon 45 Minuten. Der Sturm ist stärker geworden, der Hubschrauber kaum mehr zu halten. Bevor der Elfte hochgezogen wird sagt ihm der Franzose: „Wenn ich es nicht schaffe, sag ihnen ich habe es gern getan, aus Liebe zum Leben.“ Als das Seil zum zwölften Mal heruntergelassen wird, ist der Franzose zu schwach, um das Seil zu fassen. Wenige Minuten später ertrinkt er in den Fluten. Noch 20 Jahre danach, bei einem Interview, berichten die 11 Überlebenden, dass ihr Retter und diese Stunde ihr Leben verändert und sie gelernt haben, was Liebe bedeutet.

[Roman Braun, Die Macht der Rhetorik, S 110, 01.2008]

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